Interview mit Bruder Thomas Hessler
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Weisheit kann sich nur in Stille entfalten, sagt der Benediktinermönch Thomas Hessel. Er spricht im Interview über die Bedeutung von Wissen und Lernen, innere Freiräume und die Übung ständiger Präsenz und Achtsamkeit, auch in der Begegnung mit anderen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke, Netzwerk Ethik Heute
Frage: Was bedeutet für Sie Weisheit? Wie würden Sie ansprechen, was Weisheit in Ihrem Leben und in deiner religiösen, spirituellen Praxis bedeutet?
Bruder Thomas: Ein Schlüssel für mein Verständnis von Weisheit ist Bernhard von Clairvaux, Begründer der Zisterzienser, der auch Benediktiner war. Er beschrieb vor ca. 1000 Jahren den Unterschied zwischen Weisheit und Wissen.
Wissen komme von Begreifen. Schon das kleine Kind begreift die Dinge, indem es sie anfasst und sich dadurch Wissen aneignet. Diese Aneignung von Wissen setzt sich ein Leben lang fort. Auch wir Mönche eignen uns Wissen an, zum Beispiel mit der Lectio divina. Das ist eine spirituelle Praxis, bei der wir uns im Lesen vertiefen.
Durch das Lesen verbinde ich mich mit der Erfahrungswelt anderer und eigne mir dadurch Wissen an. Das stärkt die Verbundenheit mit dem Leben und hilft uns, gemeinsam Krisen zu bewältigen oder Herausforderungen zu bestehen.
Das ist auch heute wichtig: Wie gehen wir mit Kriegen um? Wie können wir den Frieden stärken auf dieser Erde? Woher kommen die Konflikte? Dafür braucht es Wissen, um adäquat reagieren zu können.
Weisheit hingegen kommt vom Ergriffenwerden. Bernhard von Clairvaux sagt: Das Begreifen führt zum Wissen, die Ergriffenheit führt zur Weisheit. Es ist eine spirituelle Praxis, sich in diese Ergriffenheit immer wieder einzulassen.
Wie erfahren Sie dieses Ergriffenwerden?
Bruder Thomas: Wenn ich mich, etwa in diesem Gespräch, auf eine Herzensebene einlasse und mit Ihnen in eine persönliche Beziehung eintrete, dann hat es auch etwas mit Ergriffenheit zu tun. Ich lasse mich von den Begegnungen ergreifen.
Das beginnt schon am Morgen, wenn ich den Wasserhahn aufdrehe. Ich denke an unseren Franz, den Wassermeister hier im Dorf. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass das Wasser aus der Leitung kommt, sondern das erfordert viel Engagement und Aufmerksamkeit.
Diese Praxis der Weisheit beginnt also, sobald ich die Augen aufmache. Und ein weiser Mensch zu werden, ist ein großes Ziel von Reifung.
Sich in die Stille hineingeben und ergreifen lassen.
Welche Übungen in der klösterlichen christlichen Tradition sind besonders wichtig für Sie, um Weisheit zu kultivieren?
Bruder Thomas: Es braucht Stille, um sich ergreifen zu lassen. Eine erfüllte Stille zeigt auch immer an, dass sich eine Ergriffenheit einstellt.
Wenn zwei Menschen sich lieben und liebevoll umarmen und dabei ständig sagen, „Ich liebe dich“, drückt das eigentlich nicht diese Ergriffenheit aus. Wenn ich mich aber in Zärtlichkeit Wange an Wange, Körper an Körper in die Stille hineingebe, dann entsteht eine große Ergriffenheit.
Wenn ein Kind geboren wird, dann ist es ganz still. Wenn ein Mensch stirbt, braucht es einen gehaltenen Raum der Aufmerksamkeit, der Achtsamkeit, des Respekts und der Stille. Das ist diesem heiligen Moment angemessen.
Stille hat etwas Heiliges und Heilendes. Deswegen gibt es bei uns im Kloster stille Zeiten, wo wir nicht reden und in die Stille gehen.
Wie üben Sie solche Stillezeiten?
Bruder Thomas: Zum Beispiel in unserem klösterlichen Lebensraum. Jeder Mönch hat seine eigene Zelle. Es gibt einen alten Spruch, der heißt, „die Zelle ist der Himmel“.
Wenn ich in diesem Raum des Ganz-für-mich-seins gehe, dann ist es still. Traditionell ist dieser Raum eher schlicht eingerichtet, um sich nicht zu sehr abzulenken. Es ist ein Freiraum, in dem ich mich gut konzentrieren kann.
Ein anderer Raum der Stille ist der Kreuzgang im Kloster. Das ist der zentralste Ort, weil der Kreuzgang alle Räume des Klosters verbindet. Er ist Sinnbild für die Verbundenheit, die stille Mitte.
Im Kloster ist Stille auch eine kollektive Erfahrung. Heute ist es besonders wichtig, dass wir solche Räume gemeinsam halten. Das Leben wird sehr mühsam, wenn alles zu laut wird, alles übertönt oder zugedröhnt wird. Das höhlt uns aus und entkräftet uns.
Im Kloster verbringen wir die ersten zwei Stunden des Tages in Stille. Sie gehören Gott, dem Gebet, der religiösen Praxis. Danach geht es in die Kommunikation, die das Gemeinsame meint, in dem wir zusammenleben.
Als weiser Mensch bin ich eine Hörende, ein Hörender.
Wie kann unsere Kommunikation aus der Quelle der Stille genährt werden?
Bruder Thomas: Weisheit wird durch achtsame Kommunikation gestärkt. Die Regel des heiligen Benedikt spricht davon, dass man sich vom Gespür für den rechten Augenblick leiten lassen soll.
Bei einem Gespräch braucht es dieses Gespür und diesen inneren Raum. Dann kann ich das „gute Wort“ sprechen, das manchmal auch herausfordernd oder konfrontativ sein kann. „Gut“ ist es, weil es echt ist. Das, was ich sage, ist authentisch und dient dem anderen. Auch ein konstruktives Streitgespräch ist eine gute Form von Kommunikation.
Stille und Reden sind also wesentlich. Was beides verbindet, ist das Hören. Wenn ich ein weiser Mensch bin, bin ich eine Hörende, ein Hörender. Hören ist ein Schlüsselwort für uns als Benediktiner.
Wie erleben Sie es im klösterlichen Alltag, diese Haltungen einzuüben?
Bruder Thomas: Unser Alltag bedeutet, ständig in der Gegenwärtigkeit zu sein. Dafür praktizieren wir Gebet, Meditation, Achtsamkeit, aber zum Beispiel auch Kasperltheater.
Wir Mönche spielen einmal im Monat im Anschluss an den Familiengottesdienst Kasperltheater für die Kinder hier aus der Region. Das fördert auch die Weisheit, weil Kinder lernen, sich ergreifen zu lassen.
Wir sind heil, wenn wir mit der Begrenzung des Lebens umgehen können.
Wie sehen Sie die Aufgabe von Klöstern in unserer Gesellschaft? Können sie ein Leuchtturm für weises Leben sein oder ist das zu groß gedacht?
Bruder Thomas: Leuchtturm ist vielleicht etwas zu groß gedacht, aber ich denke schon, dass wir eine Laterne für die Menschen sind. Vor allem, weil wir für die Kranken da sind. Das ist für mich auch ein Schlüssel für glaubwürdiges Leben.
Das Heilige wird auch erfahrbar im Heilen. Heilen möchte ich unterscheiden vom Genesen.
Heilen aber bedeutet darüber hinaus, ganzheitlich mit dem Leben in Einklang zu kommen. Auch wenn jemand eine chronische Erkrankung wie Krebs oder Diabetes hat, kann der Mensch heil sein.
Er ist zwar nicht gesund, aber er ist heil, weil er gelernt hat, mit der Begrenzung des Lebens umzugehen. Weil er darin vielleicht eine Chance sieht, bewusster zu leben oder das Leben noch mehr als Geschenk zu begreifen. In der Tiefe ihrer Gebrochenheit können sie vielleicht einen tragenden Grund erleben.
Frage: Das Kloster Gut Aich, wo Sie leben, engagiert sich auch sehr im interreligiösen Dialog. Trägt es ihrer Ansicht nach zur Weisheitsbildung bei, sich mit anderen Religionen auszutauschen?
Bruder Thomas: Weisheit schule ich auch, wenn ich mich für eine Tradition öffne, die mir fremd ist und vielleicht auch Angst macht. Wenn ich mich aus dieser Offenheit einlasse, kann ich erkennen, dass wir eigentlich dasselbe Grundwasser haben, das uns nährt, aber die Schöpfgefäße sind unterschiedlich – die sind katholisch, evangelisch, orthodox christlich, buddhistisch, hinduistisch, jüdisch, muslimisch.
Und unsere ja eigene spirituelle Praxis, die wir gemeinsam auch immer wieder einüben, ist der Vorgang des Schöpfens – ist der schöpferische Akt, der das Grundwasser zu Tage bringt und uns und andere erfrischt und belebt.
Br. Thomas Hessler OSB, ist Prior des jüngsten Benediktinerklosters Österreichs, dem Europakloster Gut Aich am Wolfgangsee in Salzburg. Neben einer künstlerischen Ausbildung und dem Erwerb von Erfahrungswissen aus dem Bereich der Naturheilkunde erfüllte er sich mit der Gründung des Europaklosters Gut Aich im Jahr 1993 einen Lebenstraum. Seit 1996 betreibt Br. Thomas Hessler das Kunstatelier und leitet seit 2011 die klostereigenen Kunstwerkstätten.
